Liebe Gemeinde,
ich hoffe, dass das niemanden schockiert, aber auch ein Pfarrer liest nicht nur die Bibel. Ich jedenfalls lese gerne auch mal einen Krimi; am liebsten die Klassiker, Sherlock Holmes und Father Brown, Hercule Poirot und Harry Kemelman und die anderen. Leider leidet darunter manchmal die Nachtruhe, aber was soll man machen, wenn’s einen so richtig packt…
Und nicht nur das: Manchmal, wenn die Spannung auf dem Höhepunkt ist, dann kann ich mich nicht beherrschen und blättere zum Ende vor, um schon mal nach der Auflösung zu schauen. Ich weiß, wahrscheinlich ein Anzeichen von schlechtem Charakter oder so. Trotzdem finde ich: Oft macht das Wissen um die Auflösung die Erzählung erst so richtig spannend: Wie kommt der Meisterdetektiv wohl auf die Lösung? An welcher Stelle komme ich selbst auf die richtige Spur? Hätte ich den Fall genauso gelöst? Die guten Erzählungen verlieren oft gar nichts, wenn man ihr Ende kennt. Und wenn uns beiden, also Sherlock und mir, dann die Aufklärung gelungen ist, schlage ich das Buch befriedigt zu und fahre mit meinem gewöhnlichen Leben fort, das in der Regel nicht ganz so spannend ist. Und werde mir sehr deutlich bewusst, dass das allerdings ein gravierender Unterschied ist zwischen einer guten Geschichte und meinem Leben: Ich kann eben nicht mal hinten nachschauen, wie es ausgeht.
Der heutige Ewigkeitssonntag, die Erinnerung an unsere Verstorbenen – das erinnert uns schmerzlich daran, dass unser Leben nun mal kein abgeschlossener Roman ist, dessen Ende schon feststeht, dessen Ausgang wir durch schnelles Blättern nachschauen könnten. Wir leben unser Leben, müssen es leben, ohne einen Blick auf das Ende werfen zu können. Und ob ein Leben – nach menschlichen Maßstäben – gut war, gelungen, ob sich der Kreis vollendet, oder ob es unvollendet, abgebrochen, vielleicht brutal zerrissen endet – das wissen wir nicht vorher und können es nicht wissen. Der Blick auf die letzte Seite unseres Lebens bleibt uns verwehrt.